Massenentlassung

Rechtsstand 01.05.2010


Neue Definition des Begriffs „Entlassung“ durch den Europäischen Gerichtshof

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) definiert den Begriff „Entlassung“ neu mit weiterreichenden Folgen für so genannte Massenentlassungen (EuGH C-188/03 vom 17.01.2005).

Der Fall:

Ausgangspunkt war ein vor dem Arbeitsgericht Berlin anhängiger Rechtsstreit.
Ein Insolvenzverwalter hatte entschieden, einen Betrieb endgültig stillzulegen und allen 172 Arbeitnehmern mit der für Insolvenzverfahren vorgesehenen Höchstfrist von drei Monaten zum 30. September 2002 zu kündigen.
Am 23.05.2002 wurden ein Interessenausgleich und ein Sozialplan vereinbart.
Die abschließende Stellungnahme des Betriebsrates im Anhörungsverfahren ging beim Verwalter am 26.06.2002 ein.
Die Kündigung ging der klagenden Arbeitnehmerin am 29. Juni 2002 zu.
Die Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 KSchG (Entlassung von 172 Arbeitnehmern zum 30.09.2002) mit der Stellungnahme des Betriebsrates ging am 27.08.2002 beim Arbeitsamt ein.
Die Klägerin machte vor dem Arbeitsgericht Berlin geltend, dass die Kündigung unwirksam sei (Az.: 36 Ca 19762/02).

Bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts:

Das Arbeitsgericht entschied hier nicht nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, wonach unter „Entlassung“ nicht der Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung, sondern das Datum der tatsächlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen ist.
Unter der Voraussetzung, dass der Arbeitgeber den vorstehenden Sachverhalt so wie oben dargestellt vorgetragen und bewiesen hätte, wäre die Klage unter Beachtung der ständigen Rechtsprechung des BAG abzuweisen gewesen.

Kollision mit Europarecht:

Das Arbeitsgericht Berlin hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH nachfolgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist die Richtlinie 98/59/EG dahin gehend auszulegen, dass unter „Entlassung“ im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie die Kündigung als der erste Akt zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen ist oder meint „Entlassung“ die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Ablauf der Kündigungsfrist?

2. Falls unter „Entlassung“ die Kündigung zu verstehen ist, verlangt die Richtlinie, dass sowohl das Konsultationsverfahren im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie als auch das Anzeigeverfahren im Sinne der Artikel 3 und 4 der Richtlinie vor dem Ausspruch der Kündigungen abgeschlossen sein müssen?

Die 2. Kammer des EuGH hat für Recht erkannt:

1. Die Artikel 2 bis 4 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über Massenentlassungen sind dahin auszulegen, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis ist, das als Entlassung gilt.

2. Der Arbeitgeber darf Massenentlassungen nach Ende des Konsultationsverfahrens im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie 98/59 und nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung im Sinne der Artikel 3 und 4 der Richtlinie vornehmen.

Folgen der EuGH-Entscheidung:

Die nach der bisherigen deutschen Rechtsprechung wirksame Kündigung ist möglicherweise nun unwirksam mit der Folge, dass der Betrieb zwar zum 30.09.2002 stillgelegt wurde, das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit entsprechenden Entgeltansprüchen aber weiter besteht.
Das Arbeitsgericht Berlin muss nun über den konkreten Fall entscheiden. Nach der Entscheidung ist der Weg zum Landes- und zum Bundesarbeitsgericht offen, ehe ein Urteil rechtskräftig wird.
Die deutschen und europäischen Regelungen zu Massenentlassungen gelten für Arbeitgeber, d.h. m.E. Unternehmen und nicht Betriebe, die in der Regel mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigen.

Vorstände, Geschäftsführer und Personalchefs müssen komplett umdenken. Stichtag für die Bewertung, ob eine Massenentlassung vorliegt, war bisher der letzte Tag der Kündigungsfrist. Stichtag nach der EuGH-Entscheidung ist der Tag des Aussprechens der Kündigung.
Bisher konnte die Anzeige nach § 17 KSchG bis zum Ende der Kündigungsfrist gestellt werden. Nach der EuGH-Entscheidung muss diese vor Ausspruch der Kündigung bei der Agentur für Arbeit eingehen.

Unklar ist auch, ob die einmonatige Sperrfrist (§ 18 KSchG) zusätzlich anzuwenden ist. Diese Regelung setzte voraus, dass Zeitpunkt der Entlassung entsprechend der deutschen Definition der letzte Tag der Kündigungsfrist ist.

Erste Empfehlungen zur Minimierung des Kündigungsrisikos:

Stellt die Unternehmerentscheidung, durch welche die Kündigungen begründet werden, gleichzeitig eine Betriebsänderung i. S. § 111 BetrVG dar, so sollten dem Betriebsrat die in § 17 Abs. 2 KSchG geforderten Informationen

1. die Gründe für die geplanten Entlassungen
2. die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer
3. die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer
4. den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen
5. die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer
6. die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien

im Rahmen des Interessenausgleichs mitgeteilt und unmittelbar nach Abschluss des Interessenausgleichs die schriftliche Anzeige bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) unter Beifügung des Interessenausgleichs vorgenommen werden.
Bei nicht interessenausgleichspflichtigen aber anzeigepflichtigen Entlassungen sollte dem Betriebsrat der Entwurf der Anzeige an die BA, ggf. mit Erläuterungen/Ergänzungen zu den o. g. Punkten 1 – 6 schriftlich mit der Bitte um Stellungnahme und Beratung übergeben werden. Zeitgleich mit den Anhörungen des Betriebsrates kann dann die schriftliche Anzeige bei der BA erfolgen.

Angesichts des ungewissen Zeitrahmens, wann ein deutsches Gericht rechtskräftig entschieden hat, sollte bei Restruktuierungsmaßnahmen der sichere Weg gewählt und im Sinne der Definition des EuGH jede Massenentlassung vor Ausspruch der ersten Kündigung bei der BA angezeigt werden.



RA Bodo Berwald